Ulla
Ende 1939 kam eines Tages „eine Neue“ in unsere Klasse. Sie hatte blaue Augen, blonde Haare und machte einen freundlichen Eindruck. Da meine Klassenkameradin die neben mir saß, seit längerem krank war, bekam sie durch Zufall den Platz neben mir. „Ich heiße Ulla“ sagte sie und gab mir die Hand. Nach der Schule stellte sich heraus, dass wir, bis auf ein kleines Stück, fast denselben Heimweg hatten. So kam es das Ulla und ich uns bald angefreundet hatten. Weil Ullas kleiner Bruder für viel Radau sorgte, machten wir öfter zusammen die Schularbeiten bei uns zu Hause. Manchmal begleitete ich sie dann gegen Abend ein Stück des Weges nach Hause.
Die Zeiten waren turbulent.
Der 2.Weltkrieg hatte begonnen.
Man fragte sich was die Zukunft wohl bringen würde.
Es war schon richtig kalt draußen, als ich eines Abends neben ihr ging. Sie war den ganzen Nachmittag irgendwie bedrückt gewesen und als ich sie jetzt fragte, was sie denn hätte, fing sie plötzlich an zu weinen. „Ulla was ist los?“ fragte ich beunruhigt. „Ich muss dir was sagen, genauer gesagt, ich soll dir was sagen!“ „Mein Vater sagte Gestern, dass er Jude sei!“ Dann erzählte sie mir, dass sie in Kürze nach Portugal ausreisen würden. Der Vater hoffe, dass ihm dieses gelingen würde. Er meinte unter den gegebenen Verhältnissen wäre es gut wenn wir unsere Freundschaft beendeten, es sei für meinen Vater als einen deutschen Beamten, sehr riskant wenn seine Tochter mit einer Jüdin befreundet wäre. Wir sollten uns am Besten nicht mehr sehen.
Es war schrecklich!
Gut, dass es dunkel war, denn nun weinten wir beide. Nachdem ich zu Hause alles erzählt hatte, waren meine Eltern sehr betroffen.
„Alle Achtung vor dem Mann!“
Sagte mein Vater zu mir „Lasst euch nichts anmerken und seit weiterhin befreundet wie bisher“. Ulla kam noch ein paar Mal zur Schule. Dann blieb ihr Platz leer – sie sei verzogen, hieß es. Doch ich wusste ja, was los war und wünschte ihr in Gedanken viel Glück für die Zukunft!
Mir kamen zum ersten Mal Zweifel, ob hier bei uns in Deutschland alles in Ordnung sei!
Anne Retzer